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Wie man heute in Lugansk und Donezk lebt

Wie man heute in Lugansk und Donezk lebt

Unser Korrespondent Wladimir Welengurin ist unmittelbar im Gebiet des Konflikts zwischen den Armeen der Ukraine und des Donbass gewesen

Wie man heute in Lugansk und Donezk lebt

von Wladimir Welengurin („Komsomolskaja Prawda“)
übersetzt von MATUTINSGROUP

Moskau, 12. Oktober 2017 – 19:40 Uhr, „Komsomolskaja Prawda“.-    Anfang Oktober eskalierte die Lage im Donbass. Die ukrainische Armee begann, ständig die Vereinbarung über den Waffenstillstand zu brechen. Täglich schlugen Dutzende Projektile aus dem von den Streitkräften der Ukraine kontrollierten Gebieten ein. Unser Fotoreporter Wladimir Welengurin hielt sich auf den vorgeschobenen Stellungen an der Front in den Volksrepubliken Lugansk und Donezk auf.

Das neue „Rom“ in Lugansk

„Uns ist streng verboten, das Feuer zu erwidern. Ein Befehl!“, sagt der Stabschef des 12. Bataillons „Rom“, Major Pawel Wolwitsch.

„Der Feind bricht folgendermaßen vollständig den Waffenstillstand. Sein Granatwerfer-Trupp läuft an den Fluss. Man schießt auf uns und verlässt die dortige Stellung wieder. Nur wenn die Streitkräfte der Ukraine beim Angriff die Front durchstoßen, werden wir reagieren“, sagt Pawel. Pawel ist ein ehemaliger Bergarbeiter. Er brachte es in drei Jahren bis in den Dienstgrad eines Majors.

Ein paar Tage zuvor waren wir in den Unterkünften im Dorf Krasny Yar, welches nur wenige Kilometer von der Stadt Lugansk entfernt liegt. Dort ist nichts übrig geblieben. Nur eingefallene Wände von Ruinen.

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Vor wenigen Tagen gab es dort noch die Baracken. (Foto: Wladimir Welengurin)

Sie wurden aus Mörser-Artillerie Kaliber 82 mm und Granatwerfern zu Trümmern geschossen. Mit den ersten Einschlägen der Geschosse mußten alle in den Schützengräben und Unterständen in Deckung gehen, welche bis in die Barracken reichten. Es grenzte an ein Wunder, daß es keine Verluste gab. Seit Bestehen des 12. Bataillons „Rom“ summierten sich die Verluste insgesamt auf 28 Tote und 20 Verwundete. Dies erscheint wenig für drei Jahre Kriegseinsatz, zumal sie fast alle dort in diesem Bataillon keine Berufssoldaten sind, sondern aus der Zivilbevölkerung vor Ort stammen. Es handelt sich bei ihnen zumeist aus Bergarbeitern aus der Stadt Swerdlowsk in der Region Lugansk. Auch einige Don-Kosaken, Verwandte, Brüder und Schwestern, Nachbarn und Freunde sind unter ihnen.

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Ja, man trinkt gemeinsam Tee und spielt auch selten mal Backgammon. (Foto: Wladimir Welengurin)

Jeder Verlust ist schmerzhaft für jeden von ihnen. Wir sehen hier ein errichtes Denkmal für die gefallenen Soldaten des Bataillons. Sie fielen im Kampf um das Gebiet Saur-Mogila, bei Mariupol, in der Kesselschlacht von Debalzewo.

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Am Denkmal für die gefallenen Soldaten des Bataillons. (Foto: Wladimir Welengurin)

Geht man an die Straße, dann sieht man ein Kreuz am Ort der Ermordung der russischen Fernseh-Reporter Igor Korneljuk und Anton Woloschin am 17. Juni 2014.

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Das Kreuz am Ort der Ermordung der russischen Journalisten
(Foto: W. Welengurin)

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Von den Verkehrszeichen blieb nur ein Krater übrig. (Foto. W. Welengurin)

Die Hauptaufgabe des Bataillons besteht darin, den Gegner daran zu hindern, den Fluß Seversky Donez zu überqueren. Die Uferzone des Flusses ist überwachsen mit Bäumen und Büschen. Mancherorts ist die Sichtweite eingeschränkt, so daß selbst ein Aufklärer mit Fernglas manchen Schützengraben nicht entdecken kann.

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Die Uferzone des Flusses ist von Bäumen und Büschen bedeckt, so daß ihre Überwachung mit Ferngläsern zur Gebietserkundung nicht ausreicht. (Foto: W. Welengurin)

Und der Gegner steht nur 400 Meter von der Frontlinie entfernt. Dies alles ist nur wenige Kilometer von der Stadt Lugansk entfernt.

Zwischen den Kämpfern erblicke ich eine Kämpferin. Lena muß schwer tragen. Als Sanitäter schleppt sie nicht nur einen Rucksack voller Medikamente und Verbandsmaterialien, sondern auch ihre umgehängte Maschinenpistole mit aufmunitionierten Magazinen.

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Sanitäter Lena im frontnahen Gebiet. (Foto: W. Welengurin)

Im frontnahen Gelände geht es durch ein früheres Ferienlager. Dies war unser Disneyland in der Zeit der Sowjetunion. Die Soldaten schleichen vorsichtig durch die Büsche und halten ihre Waffen ständig feuerbereit, um nicht in eine Aufklärungs- und Diversionsgruppe des Gegners hinein zu laufen. Der Weg führt vorbei an den aus Stein gehauenen Szenen aus den Märchen „Iwan Zarewitsch und der graue Wolf“, „Pinocchio“, „Die drei Bären“. Auch andere Fabelwesen sind zu sehen.

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Die Volksmiliz patrouilliert vorsichtig an den steinernen Märchenfiguren. (Foto: W. Welengurin)

Das Unglück in der Stadt Glück (Schastje)

Das Bataillon hält die Verteidigungslinie in einer Länge von etlichen Kilometern entlang dem sich windenden Fluß bis hin zum Blick auf die Stadt Schastje („Glück“). Aber dort stehen die Streitkräfte der Ukraine.

Die Brücke über den Fluß wurde gesprengt. Aber es gibt Holzflöße, auf denen sich die Zivilbevölkerung bewegen kann.

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Hinter dem Fluß liegt die Stadt Schastje („Glück“), welche von den Streitkräften der Ukraine kontrolliert wird (Foto: W. Welengurin)

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Der befestigte Kontrollpunkt des Bataillons „Rom“ zwischen Schastje und Lugansk (Foto: W. Welengurin)

Die Feuerstellung der gegnerischen Einheit des Bataillons in der Stadt Schastje befindet sich auf den Hochhäusern sowie in der Stadt mit Blick auf den Fluß. Der Bereich um die Hochhäuser dort ist mit Gräben, Bewegungsmeldern, Überwachungsgerät, Schützenlöchern und Schanzanlagen gesichert. Überall befinden sich dort Schützengräben und Schanzanlagen, Befestigungsanlagen mit Schießscharten und Straßensperren aus Beton-Platten. Auf unserer Seite hingegen sind lediglich Kämpfer mit Kompetenz. Jenen „Fünf-Sterne-Schutzwall“ habe ich hier bei uns nicht gesehen. Das Dach des Schützengrabens bildet wie bei einem Baumkuchen die Überlagerung von einigen Reifen und Klötzen, zwischen welche Erde geschichtet ist.

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Die stark befestigte Feuerstellung des Bataillons (Foto: W. Wedengrun)

Und es gibt auch Schießscharten-Löcher, denn das Glas der Fenster wird zum Eröffnen des Feuers geöffnet. Ansonsten dient das Fenster zum Schutz der Wärme.

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Ein Kämpfer der Volksmiliz an den Zinnen in einer Pause. (Foto: W. Wedengrun)

Viele Schützengräben sind mit Holzpaletten ausgelegt, um nicht im Schlamm zu versinken.

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Holzpaletten als Mittel gegen den Schlamm. (Foto: W. Wedengrun)

„Das hier ist unser Luftabwehr-Gewehr“, zeigt uns der Kommandeur ein behelfsmäßiges Gerät, bei dem der Stahlschaft und Lauf mit der Zündvorrichtung zusammengeschweißt wurden. „Ein Maschinengewehr PK wird hier aufgesetzt, damit es frei horizontal und vertikal rotieren kann.“

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Das „Luftabwehr-Gewehr“ vor Ort. (Foto: W. Welengurin)

Die Abschußvorrichtungen an den Schießscharten sind für das rasche Anbringen von schweren Maschinengewehren Kaliber 12.7 mm vorgesehen. Sie können den Gegner und seine Kampftechnik auf etliche Kilometer Entfernung treffen.

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Die schweren Maschinengewehre der Volksmiliz. (Foto: W. Wedengrun)

Ein junger Kämpfer ist beim Aufmunitionieren der Magazingürtel. Ich mache mich mit Jewgeni bekannt. Er ist mal gerade 18 Jahre jung.

„Ich wurde erwachsen und habe mich gleich beim Bataillon eingeschrieben. Mein Vater ist auch im Krieg, er ist Offizier. Aber er dient in einer anderen Einheit. Ich ging zu ihm und dann wieder weg hierher in dieses Bataillon, denn hier sind alle meine Freunde“, bekennt der junge Kämpfer freimütig.

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Jewgenis Vater dient in einer anderen Einheit. (Foto: W. Welengurin)

Waffen und Munition gibt es genug. Der automatische Granatwerfer AGS-17 feuert Salven ab.

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Der automatische Granatwerfer AGS-17. (Foto: W. Welengurin)

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Hunde sind die besten Freunde der Soldaten. (Foto: W. Welengurin)

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Ich will unbedingt rauchen, aber das ist nicht immer möglich. (Foto: W. Welengurin)

Donezk – die Stadt der Rosen

Wir fahren auf das Flughafengelände von Donezk mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats der Volksrepublik Donezk, Dimitri Trapesnikow.

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Dimitri Trapeznikow: „Wir bauen gerade wieder an der Straße, jetzt sind sie dort sicher und ruhig.“ (Foto: W. Wedengrun)

„Vorher war es nicht möglich, hier zu fahren. Die ganze Straße war voll mit Kratern. Die Löcher waren so scharfkantig, daß die Leute sich ständig die Reifen kaputt machten hier. Jetzt bauen wir wieder an der Straße, jetzt sind sie dort sicher und ruhig. Dies alles dank unserer öffentlichen Mittel. Das Volk ist heldenhaft!“, sagt Dimitri. „In der Trinkwasseraufbereitungsanlage wurden sie über 1000 mal unter Feuer genommen. Aber keiner ist weggegangen. Heldenhaft versorgen sie weiterhin die Bevölkerung mit Trinkwasser. Vor dem Krieg wuchsen in Donezk eine Million Rosen. Jetzt gab es zweimal so viele Blumen in der Stadt. Die Innenstadt ist wirklich lieblich und angenehm. Im August wurde Donezk zur Heldenstadt“, Trapesnikow zeigt auf eine Säule an der Einfahrt nach Donezk aus dem Flughafengelände heraus, wo eine Inschrift angebracht ist. „Heldenstadt und Heldenstern der Volksrepublik Donezk. Die gesamte Säule ist voller Löcher von den Kugeln.“

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Donezk ist eine Heldenstadt. (Foto: W. Wedengrun)

Sie schießen auf Lebende und Tote

Wir nähern uns dem Flughafengelände. Dimitri kennt die ganze Atmosphäre in den Straßenzügen in- und auswendig: „An der Stratonawtow-Strasse kommen wir gleich an einem Haus ohne Wände vorbei. Es wurde beim Beschuß zerstört. Dekor und Mobiliar verblieben an ihrem Platz. In dieser Straße lebt so gut wie niemand mehr.

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Ein Haus ohne Wände in der Stratonawtow-Straße. (Foto: W. Wedengrun)

Das Haus ist leer. Überall gibt es Spuren der Einschüsse. Vor uns fallen Schüsse. Anstatt zum Flughafen zu fahren, drehen wir ab und fahren in die Richtung des Iversker Friedhofs des Klosters.

Einen Kilometer entfernt detoniert ein Geschoß. Und hinter den Bäumen dort hat etwas Feuer gefangen. Einer der wenigen Leute auf dem Friedhof schenkt all dem Beachtung. Die Leute dort kümmern sich um die Gräber ihrer Lieben. Vor drei Jahren konnte niemand hierher kommen. Nach schweren Kampfhandlungen befand sich der Friedhof voller gefährlich explosiver Minen und Krater von den Einschlägen. Keine einzige Grabstätte blieb unbeschädigt. Eine Kugel durchschlug die Grabkreuze vor dem Hintergrund des Skeletts des Flughafens – ein furchterregender Anblick. Das verfallene Kloster vollendet dieses Bild.

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Verstümmelter Iversker Soldatenfriedhof und zerstörtes Kloster (Foto: W. Wedengrun)

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Aus der Entfernung, das zerstörte Flughafengebäude. (Foto: W. Wedengrun)

Der Friedhof wurde freigekämpft. Aber die Gefahr ist noch nicht gebannt. Überall lauern Minen.

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Eine nicht explodierte Mine in einem Grab. (Foto: W. Wedengrun)

Offiziell ist der Friedhof geschlossen. Aber das Volk geht zu seinen Lieben. Am Totenehrungstag gab es sogar eine Sperrung mit Polizisten. Aber das Volk war nicht aufzuhalten.

Waleri Grigorewitsch ist ein Offizier im Ruhestand, dessen Gattin und beiden Söhne auf dem Friedhof beigesetzt worden waren. Mit einer feuchten Bürste putzt er den Grabstein seiner Familienangehörigen. Die brüchigen Partikel fallen heraus, bis der lebendige Raum auf dem Granit übrig bleibt. Seine Söhne fielen in den Gefechten. Andrej in Afghanistan, wo er verwundet wurde und an seinen Verletzungen vor fünf Jahren verstarb. Der jüngere Maxim war Major, er fiel in der Kesselschlacht von Ilowaisk im jetzigen Krieg. Und jetzt wurde sein Grabstein beschossen. Man kann sein Porträt nicht einmal mehr sehen.

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Waleri G. am Grab des Sohnes. (Foto: W. Wedengrun)

„Ich habe das Video vom Beschuß des Friedhofs im Internet gesehen“, sagt ein anderer Rentner, Stepan Wiktorowitsch. „Inmitten des Kriegs hat hier alles gebrannt, es gab Tausende Einschläge. Wie konnten sie mit Geschützen auf die Toten feuern! Da konnte ich nicht mehr stillhalten. Obwohl ich ängstlich war, kam ich hierher und besuchte ich das Grab meiner Frau. Regelmäßig fliegen Drohnen über den Friedhof und überwachen die Lage hier.

Irgendwo in der Nähe hämmert immer ein Maschinengewehr. Die Arbeiten sind zu einem ‚Ritual‘ geworden. Es wurden neue Grabsteine gesetzt, um gebrochene auf der Grabstätte zu ersetzen, wo meiner gefallen ist.

Einige Kilometer von hier entfernt gibt es ein reges Leben. Im Zentrum von Donezk hört fast niemand die Schüsse. Dort herrscht die Rosenblüte. Die Menschen gehen in den Parks spazieren, sie fahren zur Arbeit. Sie vernehmen von der schwierigen Situation und den entfernten Detonationen mal gerade so viel wie vom abendlichen Kirchengeläut.“

Quelle: https://www.kp.ru/daily/26743/3771781/

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