„Die Glocken Russlands“ veröffentlicht Teil 2 des von Chefredakteur Wadim Goroschin und Michail Sarafanow mit Igor Strelkow geführten Exklusiv-Interviews am 24. Juni 2015 um 9:34 Uhr
„PUTIN IST DER NAGEL, AN DEM ALLES HÄNGT, ABER SIE WOLLEN IHN RAUSZIEHEN“
übersetzt von MATUTINSGROUP
Frage: Hat es bisher einen Nutzen aus den Vereinbarungen von Minsk gegeben? Eine Atempause, sozusagen?
Igor: Nein! Sie gaben der Ukraine eine Pause. Kein Nutzen für Russland, für die Volksrepubliken Donezk und Lugansk, da gab es nichts.
Frage: Igor Iwanowitsch, aber was ist das Wesen der Wurzel all des Übels? Ist es die Tatsache, dass Russland sich unentschlossen zeigt, sich passiv verhält, und dies bei den wichtigsten und kritischsten Fragen seiner Existenz?
Igor: Das ist alles klar: Die Menschen an der Macht haben ihre Kinder in Übersee. Und sie haben auch ihr Geld und ihre Besitztümer dort. Sie wollen keinen Streit mit dem Westen. Aber ein Krieg ist ein Streit mit dem Westen. Die Strategie des Westens besteht darin, dass unser Oligarchentum sich selbst den Ablass mit Verrat Russlands erkauft. Ein schwerer Krieg mit dem Westen ist für unsere Oligarchie die Gefahr, alles zu verlieren, was ihr teuer ist.
Wäre das teuer für Abramowitsch? Ich las heute im Internet, dass Abramowitsch entschied, ein neues Stadium für Chelsea mit Kosten von 500 Millionen Pfund zu bauen. Und ich will die Frage stellen: Wessen Oligarch ist Abramowitsch? Ein englischer oder ein russischer? Er lebt ständig in England. Seine Familie ist in England. Sein Geld ist auch in England. Er baut auch noch ein Stadion dort, – in England. Und er wird ein russischer Oligarch genannt. Und damit steht er nicht allein da.
Frage: Warum nahmen sie dann die Krim ein? Wenn doch „unsere“ Oligarchen nicht an so etwas interessiert sind. Oder, konkreter, warum die Krim und dann gestoppt?
Igor: Wissen Sie, ich könnte dasselbe machen und fragen: Gott, gib mir das Verständnis, warum sie erst die Krim einnahmen und dann stoppten?
Ich hatte das Gefühl, dass Russland sich nach dem Anschluss der Krim entschlossen hat, seine Souveränität wiederherzustellen. Jetzt ist für mich als Historiker und einstiger Geheimdienstmitarbeiter mit sozusagen in beiden Fällen analytischen Fähigkeiten klar, dass die Krim eine „rote Linie“ ist. Sie wieder auf den Ausgangspunkt rückzusetzen, ist unmöglich! Das ist kein Computerspiel, wo Du abspeichern kannst und wieder neu beginnst. Aber scheinbar versteht unsere Regierung dies immer noch nicht. Sie begreift nicht, dass es nach der Krim keine Umkehr mehr gibt.
Frage: Daher gibt es nur den Krieg?
Igor: Aber nicht notwendigerweise den heissen Krieg. Krieg ist ein breitgefasstes, grosses Konzept.
Die Wiederherstellung der Souveränität Russlands beinhaltet verschiedene Aspekte. Ja, den „Kalten Krieg“, – mindestens. Aber regional ist auch „heisser Krieg“ möglich.
Man sieht, dass wir nicht einfach davon kommen werden. Die Ukraine ist ein riesiger Blutsauger, der unser ihr dargebotenes Blut trinkt, – sie ist nicht so einfach wegzukriegen. Ohne Blutsaugerei auszukommen ist ihr unmöglich!
Entweder müssen wir die Tatsache akzeptieren, dass im Unterbauch Russlands ein Nazi-Regime steckt, welches uns früher oder später noch angreifen wird. Oder es ist nötig, dies zu zerschlagen und Kiew zu befreien!
Ich redete darüber vor einem Jahr. Aber scheinbar versteht unsere Regierung dies anders. Sie denkt, dass man irgendwo was reingeben muss, um zu verhandeln, und dann gesichts- und geldwahrend zur Vorkriegszeit zurückkehrt.
Nein. Der Krieg ist bereits unterwegs. Und wir haben ihn entweder zu verlieren oder zu gewinnen. Es gibt keine andere Option. Kapitulation in Transnistrien wie auch in Donezk und Lugansk wird einen Verlust in einem Krieg bedeuten, der auf der Krim begonnen wurde. Und die Krim würde zurückgegeben werden. Aber dann gäbe es Probleme! Nie zuvor hat Russland einen Krieg verloren und kam irgend etwas Gutes dabei heraus. Immer gab es nach einer Niederlage die Wirren.
Frage: Sehen Sie als Historiker Parallelen zwischen der derzeitigen Situation und dem Beginn beispielsweise des 1. Weltkriegs (mit der schweren Lage, in der er ein Katalysator der Wirren wurde, der Revolution von 1917), oder etwas Gemeinsames mit dem 2. Weltkrieg?
Igor: Historische Parallelen können zwischen allem gezogen werden. Unsere Gegenspieler, die Gegner des russischen Präsidenten, schikanierten ihn mit Hitlers Schicksal, solange sie immer noch völlig falsche Parallelen zulassen. Beispielsweise die Wiedervereinigung der Krim mit Russland mit dem Anschluss von Österreich zu vergleichen.
Aber der Unterschied zwischen diesen beiden Ereignissen ist sehr gross. Erstens wollte Hitler die Weltherrschaft und verheimlichte dies nicht. Russland strebt keine Weltherrschaft an. Ich denke, dass selbst bei den verrücktesten Beamten dieser Gedanke nicht aufkommt. Russland versucht einfach nur, seine Souveränität wiederherzustellen. Und die Rückkehr Neurusslands nach Russland werte ich als Schritt zur Wiederherstellung der Souveränität. Weil ohne die moderne Rüstungsindustrie der Ukraine Russlands militärisch-industrieller Komplex auf einem Bein lahmt. Ohne zumindest teilweise die sowjetischen Rüstungskapazitäten wiederherzustellen, kann die Frage der Souveränität Russlands in der modernen Welt gar nicht gestellt werden.
Bei all dem will Russland angestammte Gebiete wiedervereinen, die kürzlich Russland weggenommen wurden und zuvor jahrhundertelang Teil des Landes waren. Dieser Wille Russlands wird als Aggression und Faschismus interpretiert.
Aber die Analogie zum 1. Weltkrieg ist deutlich genug gezogen worden: die unentschlossenen Aktionen der Regierung, das militärische Scheitern, das Unverständnis über die Kriegsziele bei der Bevölkerung. Dies alles kann zur Enttäuschung führen. Dieselbe patriotische Begeisterung, welche es nach der Rückkehr der Krim gab, rollte wie eine Flutwelle auf die Küste zu, kann aber auch zurückschlagen.
Frage: Aber es gibt da so einen Gesichtspunkt. Man sagt, dass der Kreml insbesondere deshalb nicht in den militärischen Konflikt in der Ukraine interveniert, weil die Junta sich selbst verschleissen wird. Die Auseinandersetzung zwischen den Fraktionen dort wird den Fall entscheiden, das ist ein Krieg aller gegen alle. Und dann wird das Volk revoltieren. Und die Ukraine wird uns in die Hände fallen. Was denken Sie darüber?
Igor: Ich sehe ein etwas anderes Bild. Für denjenigen Teil des Regimes, welcher eng mit den Oligarchen und durch sie mit dem Westen verbunden ist, wäre Russlands Eintritt in den Krieg sehr unvorteilhaft. Daher werden diese Leute alles tun, um diesen Moment hinauszuzögern. Und es ist wünschenswert für sie, ihn ganz zu vermeiden.
Verstehen Sie, viele von ihnen meinen, dass der Niedergang Russlands sich keinesfalls auf ihre persönlichen Zukunft auswirken wird. Sie scheren sich nicht um Russland. Wer sein Land mag, lässt seine Kinder nicht im Ausland unterrichten und kauft nicht die Immobilien an der Mittelmeerküste auf. Und diese Menschen denken nur an sich selbst, an ihren eigenen persönlichen Reichtum.
Die Souveränität und die Unabhängigkeit sind für sie leere Worte. Das russische Volk ist für sie ein leeres Wort. Sie sind die „Übermenschen“, die abscheulichste Kategorie von Menschen, die sich an die „Iwans“ und die existierende Verwandtschaft nicht erinnert. Von ihnen wird das Weltbild erzeugt „man darf nicht kämpfen, sondern muss kapitulieren“. Und wir setzen das Komma an anderer Stelle „man muss kämpfen, man darf nicht kapitulieren“. Jetzt geht der Hauptkampf darum, an welcher Stelle dieses Interpunktionszeichen zu setzen ist.
Wenn sie siegen werden, werden wir kapitulieren, und es werden die Wirren auf dem Territorium Russlands anfangen. Und wenn wir siegen werden, so müssen sie sich von einem erheblichen Teil ihres Kapitals im Westen trennen (weil ihre Komplizen sich von ihnen trennen und sie berauben werden). Deshalb unterstützt der Westen mit Russland den Konflikt der mittleren Intensität (führt eben keinen heissen Krieg und keine gegenseitige Vernichtung durch), um unsere Spitze abzusetzen und eine Palastrevolte zu machen.
Alle diese „orangenen Revolutionen“, vor denen wir uns ängstigen, sind glatter Unsinn. In Russland hat sich die Regierung immer infolge von Palastrevolten geändert.
Frage: Denken Sie, dass dies wahrscheinlich ist?
Igor: Weit darüber hinaus meine ich, dass die Verschwörung gegen den Präsident schon da ist!
Frage: Aber es wird geglaubt, dass Putin alles und jeden kontrolliert!
Igor: Also bitte! Die Staatstheorie besagt, dass der Regierungschef, selbst wenn er ein Genie ist, nicht mal eine Gruppe von mehr als 12-15 Leuten leiten kann.
Frage: 15 Leute, und sie leiten dann wiederum den gesamten Rest. Vertikale Machtausübung. Hinzu kommt, dass diese 15 alle dem Präsidenten verpflichtet sind.
Igor: Aber sie kamen an die Regierung und wurden aus dem Abschaum heraus die Reichsten und wollen niemandem verpflichtet sein. Im Leben Napoleons war dies der Fall. Er ist bis zum Marschall aufgestiegen und hat den Herzogtitel des Sohns erhöht. Aber im entscheidenden Moment wollte der Herzog ein Herzog bleiben, um seinen Status zu retten, womit er das Scheitern Napoleons vorantrieb.
Ähnlich können in der Umgebung des Präsidenten verschiedene Leute sein. Ich bin sicher, dass immer noch viele ihm treu ergeben sind. Aber es gibt auch jene, die ihm zureden, sich mit einem Rücktritt abzufinden. Ich denke, dass sie in die Verschwörung verwickelt sind.
Frage: ABER nur wenn privates Kapital und Status ihnen abgenommen werden, sofern diese Leute in den Interessen des Westens handeln. Kann es sein, dass einige von ihnen einfach Spione sind?
Igor: Es gibt ein Konzept des „Einflussagenten“. So eine Person ist nicht unbedingt eingeschrieben oder leistete den Eid auf einen anderen Staat. So ein System ist einfach geschaffen worden, damit man über die Beeinflussung der Schlüsselperson die Politik eines anderen Staates beeinflussen kann.
Wir haben sehr viele Einflussagenten aus dem Westen seit 1991 in der Regierung. Da ist wieder das Beispiel Surkow. Vier seiner Kinder sind wo? In London. Und sein gesamtes Geld, denke ich. Gut, sagen Sie mir, wessen Einflussagent er ist? … Und weil ein solcher Mensch jetzt an diesem Schlüsselpunkt ist! Neurussland ist jetzt der Schlüsselpunkt für die gesamte russische Aussen- und auch Innenpolitik! Und so ein Mann sitzt an diesem Punkt! Wie kann man jemandem trauen, der in jeder Beziehung dermassen angreifbar ist?
Frage: Übrigens gibt es eine Welle von Gerüchten, dass Surkow vom „Neurussland-Projekt“ entfernt worden ist …
Igor: Ich höre von dieser Welle seit September vorigen Jahres. Bis ich die Anweisung über das Ausscheiden von Wladislaw Jurijewitsch aus dem Staatsdienst sehen werde, ist er Berater des Präsidenten … und sind dies alles nur Worte.
Frage: Aber das ist wirklich ein ganz wichtiger Punkt und ist wahrlich der Schlüssel: Werden wir Neurussland verteidigen oder werden wir dies nicht tun? Darum sind da auch Personalentscheidungen nötig. Glauben Sie nicht, dass sie geschehen werden?
Igor: Persönliche Entscheidungen sind auch verschieden. Ich möchte dafür unseren Präsidenten nicht kritisieren, aber seine Kaderpolitik erinnert an ein Kartendeck. Ich spiele wirklich nicht mit Karten. Jetzt ist der Grundsatz dieser Politik, dass ein Mann, der an einem Platz scheitert, nicht vom Deck verschwindet.
Wenn beispielsweise ein Mann im Gesundheitsministerium seinerzeit scheiterte, wurde er zum Botschafter in Kiew ernannt. Bricht er dort ein, wird er woandershin gesteckt … aber das Deck bleibt unverändert.
Dieses Deck wird nach dem Grundsatz der persönlichen Loyalität gebildet, oder konkreter dem, was der Präsident unter persönlicher Ergebenheit versteht. Ich denke, er ist sich nicht ganz bewußt, dass diese Menschen ihm nicht so ergeben sind, wie sie dem Wohlstand gegenüber sind, welchen die Zugehörigkeit zu diesem Deck ihnen verschafft. Aber inwieweit er sich von der Nomenklatura losreißen kann, davon hängt nicht nur sein persönliches Schicksal, sondern auch das Schicksal Russlands ab.
Jetzt befindet sich der Präsident gleichzeitig an der Basis und an der Spitze der zwei Pyramiden, des Staates und des Volkes. Die Regierung vertraut dem Volk nicht, ganz ähnlich vertraut das Volk der Regierung nicht. Aber dem Präsidenten vertrauen sowohl das Volk als auch die Regierung, da er sowohl für die eine als auch für die andere Pyramide legitim ist. Und kein Zweig der Regierung kann sich in der Legitimität mit dem Präsidenten vergleichen.
Putin ist jetzt faktisch eine sakrale Figur. Außer ihm gibt es niemanden. Schalten sie ihn aus, dann wird das Volk diese Regierung zusammenbrechen lassen. Und es werden wieder die Wirren anfangen.
Ich bin kein großer Verehrer des Präsidenten als Person. Ich bin kein Arschlecker. Aber ich sehe ein, dass die Wirren das Schlimmste sind, was unserem Land passieren kann. Deshalb meine ich, dass Putins Interesse die Rettung des Landes ist, und es das Interesse des Landes ist, den rechtmäßigen Präsidenten zu erhalten. Putin ist jetzt jener Nagel, an dem alles hängt. Wird er jetzt herausgezogen, dann bricht alles zusammen.
Frage: UND was ist zuerst zu tun, damit das schlimmste Drehbuch nicht verwirklicht wird?
Igor: Russland muss sich völlig ändern. Zuerst verstehen, was es will. Um eine klare Politik zu haben, die nicht von den Erdöl- und Erdgaspreisen bestimmt wird, sondern von der Entwicklung des Landes bestimmt wird. Man muss begreifen, dass das Problem des Präsidenten und seiner Umgebung, die ohne es zu wissen für den Gegner arbeiten, die keine Einflussagenten sind, der Unterschied zwischen den Zielen und den Methoden ist.
Sie wollten das Eine und bekommen das Andere. Sie wollten durch das Übertragen eines Teils seiner Souveränität an internationales Management Russland in den Westen integrieren und ein Gebäude im Block der westlichen Zivilisation und auf deren Kosten werden lassen und erwarteten da nicht den letzten Platz, sicherlich nicht den Status von Burkina Faso. Aber, man nimmt sie nicht auf!
Der Westen braucht nur die Rohstoffleitung und ein paar Leute als Bedienpersonal für sie. Das ist alles! Weiter braucht der Westen nichts von uns. Alles andere eignet er sich selbst gerade an.
Wir versuchten wirklich die Integration in das System, aber uns haben sie einen Schlagbaum in den Weg gestellt. Und dann begann das Befremden unserer Führung: Wir tun alles für euch, aber was tut ihr für uns? Und sie haben das wie einen Aufruhr eingeschätzt, der im Keim erstickt zu werden hat, um die übrige Welt zu entmutigen.
Aber Tatsache ist, dass Russland, sofern imstande, sich mit der Ukraine und Belarus zu vereinen, genug hat. Es ist dann selbstgenügsam fähig, für sich selbst zu sorgen, wenn auch nicht auf dem Niveau eines „Paradieses auf Erden“.
Erlangt Russland seine wirkliche Souveränität, wird die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten unmittelbar zusammenbrechen. Wir haben immer noch die Ressourcen, auch die Überbleibsel der nuklearen Knute. Hinterlassen wurde bei uns eine Bevölkerung, die sich noch gut daran erinnert, dass sie einst in einem grossen Land lebte, und nicht in einer Rohstoffkolonie, sondern einer „Energie-Grossmacht“. Aber das ist für den Westen gefährlich.
Und unsere Beamten nehmen einerseits hin, dass man sie nicht weiter in den Westen gelassen hat, und andererseits kämpfen sie nicht mit ihm mit ihren Händen, weil sie mit all jenen Gedanken nach Westen strebten. Dies ist die Wasserscheide. Der Westen lässt kein Erlöschen dieses Konflikts zu. Er fordert allein die vollständige Kapitulation. Während der Kreml derzeit versucht, einige Optionen anzubieten. Deshalb erzählten Beamte dem Präsidenten eben, dass vermutlich etwas vereinbart werden wird. Aber dies wird nur zum Schicksal eines Milosevic, Gaddafi und Saddam führen.
Quelle: http://kolokolrussia.ru/russkiy-mir/igor-strelkov-putin-gvozd-derzhashchiy-vse-i-ego-hotyat-vyrvat
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