Igor Strelkow, Pressekonferenz in Donezk, Ukraine, im Juli 2014
Russlands „tapferer Held“ in der Ukraine richtet sein Feuer auf Wladimir Putin
von Shaun Walker, Korrespondent des britischen „Guardian“ in Moskau
übersetzt von MATUTINSGROUP
The Guardian, 05. Juni 2016 – 17:03 Uhr.- Vor zwei Jahren war Igor Strelkow die berüchtigste Persönlichkeit des Krieges in der Ostukraine. Der ehemalige russischer Geheimdienstoffizier mit gezwirbeltem Oberlippenbart und einer Vorliebe für historische Nachstellungen namens Strelkow leitete die Einnahme der Stadt Slawjansk im April 2014, was die bewaffnete Auseinandersetzung um die Region einleitete.
In Kiew wurde er als blutiger und grausamer Kriegsverbrecher, als ein von Moskau zur Verwüstung der Ukraine geschickter Kreml-Agent. In Russland zeichnete man von ihm das Bild eines tapferen Helden, welcher die Aufständischen vor Ort bei ihrem Kampf gegen Kiew anführte. Man sah in durch die Korridore des Stabsquartiers der Donezker Rebellen schreiten, mit umgehängter Pistole im Holster an der Hüfte und flankiert von schwerbewaffneten Leibwächtern.
Zwei Jahre später gibt er eine ganz andere Figur in einem Interview mit dem Guardian in seinem kleinen Moskauer Büro ab. In leichter ziviler Kleidung verbringt er das Interview und streichelt dabei seine riesige Perserkatze, die mürrisch auf dem Schreibtisch vor ihm liegt. Strelkow hat in den vergangenen Wochen sein rhetorisches Feuer auf den Kreml selbst gerichtet. Auch wenn er nicht länger eine Armee hat, die seinen Worten Nachdruck verleiht.
„Putin und sein Kreis haben kürzlich Schritte unternommen, bei denen ich meine, dass sie unvermeidlich zum Zusammenbruch des Systems führen werden“, sagte Strelkow. „Wir wissen noch nicht wie, und wir wissen noch nicht wann. Aber wir sind sicher, dass es zusammenbrechen wird, und zwar eher früher als später.“
Nachdem er vom Kreml im August 2014 aus der Ostukraine abgezogen worden war, weil Berichten zufolge die russischen zuständigen Stellen ihn für zu zuverlässig empfanden, kam Strelkow in eine fremde zwielichtige Umgebung und wurde davon abgehalten, in den Konflikt zurückzukehren oder in den staatlich kontrollierten Medien aufzutreten. Nach fast zweijährigem Verharren im Schweigen veröffentlichte das einstige Aushängeschild eines Pro-Russlands in der vorigen Woche eine sehr kritische Erklärung hinsichtlich Präsident Wladimir Putin, worin Aufruhr und Blutbad in Russland in naher Zukunft vorhergesagt werden.
Strelkow, dessen wirklicher Nachname Girkin lautet (Strelkow ist sein vom russischen Wort „Schütze“ abgeleitetes Pseudonym), meint, dass Putin im entscheidenden Moment 2014 vor Angst schlotterte, die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen für immer zu zerbrechen. Der radikale Nationalist Strelkow, welcher meint, dass Russland alle von ethnischen Russen bewohnten Länder erobern sollte, und welcher die Ukraine als „Russen, die einen anderen Dialekt sprechen“ beschreibt, äusserte, dass es fatal war, dass Putin nach dem Anschluss der Krim stoppte.
„Er überschritt den Rubikon. Aber dann stoppte er unerwarteterweise und unlogisch. Er wich nicht zurück. Aber er ging auch nicht vorwärts. Er hat keine Vorstellungen und scheint auf ein Wunder zu warten. Er steckt fest inmitten eines Sumpfes.“
Foto: Igor Strelkow mit seiner Katze „Sjerdity“ („die Mürrische“), Fotograf: Shaun Walker für den Guardian
Strelkow, der Geschichte studierte und selbst weissgardistische Offiziere spielt, die im russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki kämpften, ist wegen seiner Rolle im Ukraine-Krieg auf die internationale Sanktionsliste gesetzt worden. In der vorigen Woche legte die polnische Parlamentsabgeordnete Małgorzata Gosiewska einen Bericht über angeblich von Strelkow begangene Kriegsverbrechen beim Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag vor und hofft, daß dort ein Strafantrag gestellt werden wird.
Strelkow bestreitet nicht, Menschen wegen Plünderung erschossen zu haben. Aber er nimmt in Anspruch, dass die Exekutionen rechtmäßig waren, weil sie gemäß einem sowjetischen Gesetz über Kriegsrecht ausgeführt worden waren.
„Ich war die einzige Person, um ein Gerichtsverfahren abzuhalten, und ich habe die Leute nicht einfach erschossen. Es gab eine Troika aus Richtern mit einem Militärstaatsanwalt und einem Anwalt. Und es gab auch Freisprüche“, sagte er.
„Unter militärischen Bedingungen wäre die Lage ohne strenge Disziplin und ohne das scharfe Schwert der Justiz nicht unter Kontrolle. Als ich kommandierte, gab es dies nicht. Jeder Soldat wusste, daß wenn er ein Verbrechen begeht, er so hart wie ein Feind bestraft werden würde, wenn nicht sogar noch härter. Dies verhalf sehr zur Einhaltung der Disziplin.“
Unklar ist, bis zu welchem Ausmaß Strelkows Handlungen in der Ukraine mit dem Kreml abgestimmt worden waren. Beim Anschluß der Krim, an welchem Strelkow teilnahm, wurde der militärische Einsatz sorgfältig koordiniert. Doch meinen etliche, dass bei der Verlegung der Handlungen in die Ostukraine Strelkow mehr in der Rolle eines Freischaffenden tätig war. Zwar in Kontakt mit den Kuratoren in Moskau, aber nicht aktiv von ihnen geführt. Er hatte bereits als Freiwilliger in Transnistrien und Bosnien zu Beginn der 1990er Jahre gekämpft. Er leistete als Offizier von Russlands Geheimdienst FSB Dienst in beiden Tschetschenienkriegen. Er gibt an, dass er aus dem aktiven Dienst „nach einer persönlichen Auseinandersetzung“ 2012 augeschieden ist und verweigert nähere Auskünfte diesbezüglich.
„Ich war weitgehend eine unabhängige Figur“, äusserte er sich nachdrücklich zu seiner Rolle in der Ostukraine. Er sagte, dass er alle seine Kontakte nutzte, um eine umfassende russische Invasion zu fordern, es aber bald deutlich wurde, dass da kein Weiterkommen drin war. Russland lehnte jeglichen Einbezug in der Ukraine ab. Auch wenn Putin im Dezember einräumte, daß es in der Region „Leute gibt, die gewisse Aufgaben ausführen“. Strelkow selbst lehnte es ab, zum Grad der amtlichen Beteiligung Russlands eine Bemerkung zu machen. Er sagte lediglich, dass „man seine eigenen Schlüsse ziehen möge“.
Es gibt eine überwältigende Beweislage für die russische finanzielle und militärische Unterstützung für die Aufständischen wie auch den Einsatz von regulären russischen Truppenverbänden in den entscheidenden Momenten der Auseinandersetzung. Und einige Aufständische haben angegeben, dass der Rückzug des unberechenbaren Strelkow eine der vom Kreml gesetzten Vorbedingungen für die Truppenentsendung zur Absicherung einer krachenden Niederlage der Ukraine in der Schlacht um Ilowajsk gewesen war.
Konkret seit Strelkow aufgetragen worden war, die Ukraine im August 2014 zu verlassen, setzte der Kreml ihn auf die „Stopp-Liste“. Das ist die inoffizielle Liste mit jenen, die keinerlei Auftrittszeit im staatlichen Fernsehen genehmigt bekommen, und wo sich die meisten Vertreter der liberalen Opposition bereits befinden.
„Ich bin eine unbequeme Figur für sie. Sie wissen nicht, was sie mit mir anstellen sollen. Bin ich ein Held oder ein Terrorist? Sie können mich nicht festnehmen und inhaftieren. Denn es würde als Verbeugung vor dem Westen angesehen werden, mich einen Terrorist zu nennen. Aber mir Ehre zukommen zu lassen, ist auch unbequem für sie. Deshalb bin ich in dieser merkwürdigen Ecke.“
Ein Anwesender beklagte, daß niemand mit dem ehemaligen Donezker Oberkommandierenden reden wollte. Nicht einmal die Journalisten, welche später ein Interesse bekundeten. Sie riefen dann zurück und sagten, daß ihnen gesagt worden sei, dass es besser wäre, nicht mit ihm zu sprechen.
„Die zuständigen Stellen wollen keine unabhängigen Politiker oder Menschen, die freimütig denken. Ganz egal, zu welchem Lager sie gehören. Sie wollen nicht mal frei denkende Unterstützer“, sagte Strelkow. Das in der vorigen Woche veröffentlichte Manifest ist eine Mischung sowohl überraschend liberaler Versprechen über die Redefreiheit und freie Wahlen sowie imperiale Rhetorik über eine Ausdehnung der russischen Länder und den Schutz der Russen in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion.
„Wir können als Randfiguren erscheinen. Aber die Bolschewiki brauchten nicht mehr als 1% der Bevölkerung, um die Dinge 1917 zu verändern“, sagte Jegor Proswirnin, der einen nationalistischen Blog betreibt und auch zusammen mit Strelkow und einer Reihe weiterer Nationalisten die Erklärung unterzeichnete. „Die Dinge können sich sehr, sehr rasch verändern.“
Strelkow und seine Gruppe nationalistischer Blogger und abseits stehender politischer Figuren erscheinen in der Tat als Randfiguren. Aber der Nationalismus ist eine starke politische Kraft in Russland. Und viele fragen sich, ob die Flammen, die im Osten der Ukraine im Jahr 2014 geschürt wurden, jetzt so einfach zu löschen sein werden, wo der Kreml eine diplomatische Lösung sucht, die ihm immer noch ein Mitspracherecht in den ukrainischen Angelegenheiten geben würde.
„Der Kreml ist sehr verängstigt über die Nationalisten, weil sie dieselbe imperiale Rhetorik wie Putin benutzen und es viel besser als er tun können“, sagte Alexej Nawalny, ein Kämpfer gegen die Korruption und oppositioneller Politiker. „Daher sind Nationalisten im Gefängnis, darunter sogar Unterstützer von Putin. Sie küssten ihm die Füsse, aber er stiess sie ab.“
Andere sagen, dass eine Figur wie Strelkow nach seinen kurzen Monaten im Rampenlicht 2014 dazu verdammt ist, von jetzt an am Rande auszuharren, sich kleinen Gruppen von Nationalisten in seinen Diskussionsreisen durch das Land zuzuwenden, aber kaum einen breiten Rückhalt dadurch gewinnt. Strelkow sagte, dass er nicht vorhat, für ein Wahlmandat bereit zu stehen. Aber er denkt, dass seine Zeit erneut kommen könnte.
„Wir planen nicht, eine Revolution zur Entmachtung von Wladimir Putin einzuleiten. Nachdem ich an fünf Kriegen teilgenommen habe, weiss ich sehr gut, was es bedeutet, wenn ein Regime und die gesellschaftliche Infrastruktur in den Großstädten zusammenbricht. Niemand will dies. Auch ich will dies nicht. Aber leider könnte es unvermeidlich sein.“
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