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Ukraine: Die Politik muss wieder das Ruder übernehmen

Original: RussEurope – Ukraine : mettre la politique au poste de commande    Übersetzt von: Gregor Thevenot

Jacques Sapir

29. August  2014 @ 12:40 — Jacques Sapir

Es ist jetzt höchste Zeit, dass in der ukrainischen Krise die Politik wieder Ihre Rechte bekommt. Aber das bedeutet, dass zunächst ein Waffenstillstand zwischen der Regierung in Kiew und den Aufständischen erreicht werden muss. Alle Energie sollte auf dieses Resultat abzielen. Aber wir beobachten, dass dies nicht der Fall ist und die anti-russische Hysterie in den Medien sehr präsent ist. Wir müssen hier einige Punkte wiederholen, die in den Kommentaren, die wir über die Situation in der Ukraine lesen oder hören  anscheinend systematisch übersehen werden.

  1. Die Regierung in Kiew hat unverhältnismäßig Gewalt angewendet, die viele zivile Opfer zur Folge hatte und eine in Zahlen nicht fassbare Zerstörung in den von den Aufständischen gehaltenen Städten verursachte. Die wahllose Bombardierung von militärischen und zivilen Zielen war sehr zahlreich. Hier können wir den Verdacht äußern, dass die militärischen Führer der Kräfte von Kiew bewusst die Menschen bestrafen wollten und versuchen eine ethnische Säuberung durchzuführen, um die Abwanderung der russischsprachigen Bevölkerung zu erzwingen. All dies sind „Kriegsverbrechen“. Auffällig ist, dass es bis vor kurzem – und zwar bis zum Samstag dem 23. August – keine Berichte über das Thema in den „großen“ TV-Kanälen gab. Die französische Presse, die sich in der Regel sehr schnell empört – das muss man zu ihrer Ehrenrettung sagen – war zum Thema Ostukraine lange und seltsam still. War es, weil die Opfer „ethnische“ Russen sind wie man so schön sagt? Zu glauben, dass Russland, sei es der russischen Staat oder die russischen Menschen, die Not dieser Menschen ignorieren könnten, war eine trügerische Hoffnung und ein tief greifender Fehler. Zu glauben, dass Russland eine neutrale Haltung in dieser Beziehung einnehmen würde, entbehrt in der Tat jeder Grundlage. Russland hat bis zum heutigen Tag eine friedliche Position eingenommen. Die Präsenz der russischen Freiwilligen, die mit etwa 3.000 angegeben werden, zeigt das tiefe Mitgefühl und die Sympathie, die das Schicksal des Volkes in der östlichen Ukraine weckt.

  1. Eine Anwesenheit russischer Truppen wird von der NATO und natürlich von der Regierung in Kiew behauptet. Die russische Regierung bestreitet diese Vorwürfe. Die NATO schätzt die Zahl der russischen Soldaten auf etwa tausend. Beachten Sie bitte, dass, auch wenn die NATO in diesem Punkt recht hätte,  die Zahl der Soldaten völlig unzureichend wäre, um den militärischen Zusammenbruch den Kiew in den letzten Tagen erlitten hat zu erklären. Die Zahl der Soldaten (der Armee und der Nationalgarde), die in Operationen gegen die Aufständischen involviert sind, wird auf 50.000 geschätzt, die Aufständischen verfügen lediglich über eine Kampfkraft von rund 15.000 Menschen. Wenn sich die Präsenz russischen Truppen bestätigen würde, hätten diese nur eine lokale Nebenrolle in den Kämpfen gespielt, die in den letzten Tagen stattgefunden haben. Ihre Anwesenheit kann daher nicht die vielen Niederlagen erklären, die die Streitkräfte von Kiew erlitten haben. Es erklärt auch nicht, warum die ukrainischen Kräfte südlich von Donezk und Mariupol am zusammenbrechen sind.

    Vor diesem Hintergrund aus betrachtet, ist es bezeichnend, dass das Außenministerium der Regierung der Vereinigten Staaten heute von einem „Einfall“ spricht und nicht, wie viele Journalisten, von einer „Invasion“. Dies bedeutet, dass das Problem politisch und nicht militärisch ist. Klar ist, sollte die Anwesenheit der russischen Truppen bewiesen werden, dann wäre dies nicht akzeptabel, so dass Russland die Truppen so bald wie möglich zurückziehen müsste. Russland sollte gegebenenfalls zu einer Position des Nicht-Angriffes zurückkehren und die Länder der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten sollten aufpassen, nicht in die gleichen Fallen wie Kiew zu treten, die mit aller Macht den Konflikt internationalisieren wollen.

  1. Wörter haben eine Wirkung. Durch die konsequente Verwendung des Begriffes „Invasion“ begehen einige Französische Journalisten einen Doppelfehler. Auf der einen Seite reaktivieren sie in unserem kollektiven Gedächtnis das Bild von Invasionen, die unser Land viele Male in der Geschichte erlitten hat. Wenn wir von Invasion sprechen, denken wir sofort an viele Männer, die zu Hunderttausenden über unsere Grenzen herfallen. Es ist jedoch klar, dass dies in der Ukraine absolut nicht der Fall ist. Außerdem ergreifen sie mit dieser Haltung Partei für die Regierung in Kiew. Das ist ein Problem der Meinungsvielfalt in den Medien, ob Print oder Rundfunk.

  1. Die gleichen Journalisten behaupten, dass „russisches“ Kriegsmaterial in den Händen der Aufständischen sei, was Russlands Beteiligung zu deren Gunsten „beweisen“ würde. Hier muss man wissen, dass die Aufständischen in den vergangenen Monaten große Mengen an Ausrüstung und Material von den Kiewer Truppen erbeutet haben. Aufständische berichteten von mehr als 200 gepanzerten Fahrzeugen (Panzer, Infanterie-Fahrzeuge und Selbstfahrlafetten), die in der Schlacht erbeutet wurden.[1]

Die Dringlichkeit eines Waffenstillstandes

Ich habe schon viele Male gesagt, dass ein Waffenstillstand nötig ist. Und wir müssen politische Lösungen finden, um eine Eskalation der Krise zu vermeiden. Die Regierung in Kiew muss einwilligen, sich mit den Aufständischen zu Verhandlungen zu treffen, was de facto die Anerkennung ihrer Legitimität bedeuten würde. Solange Kiew sich weigert, kann die Situation nur noch schlimmer werden, nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch politisch. Die Kiewer Truppen haben sich an einigen Abschnitten der Front aufgelöst und Ausrüstung und Munition zurückgelassen. Weitere Truppenteile sind umzingelt. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Aufständischen darum gebeten, einen humanitären Korridor offen zu lassen damit diese umzingelten Truppen nach Russland evakuiert werden können. Wir sehen hier die Dramatik der Situation. Zur gleichen Zeit, bombardieren die Kiewer Truppen weiterhin Zivilisten. Es ist daher klar, dass es jetzt dringend notwendig ist, dass es zu einer Einstellung der Kampfhandlungen kommt. Wenn es allerdings zu einem Waffenstillstand in den kommenden Tagen kommen sollte, was derzeit sehr unsicher ist, muss sichergestellt werden, dass dieser langfristig gewährleistet ist. Dies bedeutet letztlich, dass dies nur mit Truppen möglich ist, die unter dem Mandat der Vereinten Nationen stehen, um auf beiden Seiten weitere Provokationen zu vermeiden, die als Vorwand für erneute Kämpfe dienen würden. Aber diese Truppen dürften nicht aus Ländern der Europäischen Union, der NATO oder Russland sein. Truppen der EU und der NATO wären nicht akzeptabel für die Aufständischen und russische Truppen wären es in gleicher Weise nicht für Kiew. Wir müssen daher auf Schwellenländer zurückgreifen wie Brasilien, Indien und sogar China. Hier muss man die Symbolkraft sehen. Blauhelme aus Schwellenländern, die als Vermittler in Europa auftreten wären der vollkommene und deutlichste Beweis für das Scheitern der Europäischen Union und ihrer Unfähigkeit, im Gegensatz zu ihren Ansprüchen, Frieden zu gewährleisten. Dies wäre auch eine Demonstration der Realität der multipolaren Welt des XXI. Jahrhunderts.

Welche politische Lösung?

Ein Waffenstillstand ist kein Ziel an sich, auch wenn eine Einstellung der Kampfhandlungen dringend notwendig ist, sollte dieses zur Entstehung einer politischen Lösung der Krise führen. Seit Ende Februar beobachten wir, in welchem Umfang tragische Fehler gemacht wurden, entweder von den Führern aus Kiew oder jenen der Europäischen Union. Durch die Weigerung in den ersten Tagen im März, Garantien für die kulturellen und sprachlichen Rechte der Menschen im Osten der Ukraine zu geben, führte dies zu dem unvermeidlichen Aufstand. Gleich die Hypothese eines erweiterten Föderalismus abzulehnen und sofort mit den Feindseligkeiten zu beginnen und diese als eine angebliche „Anti-Terror-Operation“ zu tarnen, hat vielleicht letztlich zu einem unwiderruflichen Bruch mit den Aufständischen geführt. Die Länder der EU haben sich viel Zeit genommen, bevor sie der ukrainischen Regierung klar machten, dass ein Beitritt in die EU nicht in Frage kommt. Damit nährten sie gefährliche Illusionen unter den Führern in Kiew. Sie weigerten sich auch den entscheidenden Druck  auf die Regierung auszuüben, damit diese einen umfassenden Föderalismus nach kanadischem Modell wie in Quebec akzeptiert, solange es noch Zeit war (im April und Mai 2014). In dieser Hinsicht tragen diese Führer ihren Teil der Verantwortung an der ukrainischen Krise. Letztendlich war der dritte und entscheidende Fehler, die Aussage Washingtons über die Verantwortung in dem Drama um das Flugzeug  der malaysischen Airline (die MH17) für bare Münze zu nehmen. Und während wir sehr starke Zweifel an dieser amerikanischen These haben, hat sie doch dazu geführt, die russische Regierung von einer systematischen Boshaftigkeit der EU in der ukrainischen Sache zu überzeugen.

Heute, wo deutlich ist, dass weder die USA noch die NATO noch die EU Kiew militärisch zu Hilfe kommen werden, sind die Optionen für Verhandlungen tatsächlich sehr gering geworden. Diese haben sich auf zwei Modelle reduziert: eine Anerkennung einer eigenen Verwaltung der Aufständischen und der Autonomie von Neurussland als Teil der ukrainischen Nation (nach dem Modell der autonomen Provinz Kurdistan im heutigen Irak) oder die De-facto-Unabhängigkeit des Novorossiya genannten Gebietes, die aber nicht von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden würde. Wir hätten dann einen neuen „eingefrorenen Konflikt“ in Europa und dieser wäre von langen Spannungsperioden mit Russland begleitet. Dies würde ein Umschwenken Russlands nach Asien beschleunigen, verbunden mit erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen für die EU-Länder.

Ich habe bereits geschrieben und es viele Male gesagt, ich bleibe davon überzeugt, dass die beste Lösung  eine weitgehende Autonomie im ukrainisch nationalem Rahmen ist. Diese Lösung erlaubt es, dass wichtige wirtschaftliche Beziehungen bestehen bleiben. Denn ohne die Kohle aus dem Donbass, aber dafür mit einem eingefrorenen Konflikt, wären die wirtschaftlichen Aussichten für die Ukraine katastrophal. Die Europäische Union wird nicht die Mittel haben, um dieses Land dauerhaft zu unterstützen. Die Aufständischen müssen wiederum die Tatsache akzeptieren, nomineller Teil der Ukraine zu sein, so wie die Regierung von Kurdistan eine nominelle Unterordnung unter der irakischen Regierung akzeptiert. Soziale und menschliche Gründe sind starke Argumente für eine solche Lösung.

Da die EU nicht in der Lage ist die ukrainischen Frage zu lösen, wie auch viele andere, wäre es für Frankreich ehrenhaft und auch profitabel (weil es nicht verboten ist, Geschäftliches mit Ehrenvollem zu verbinden), wenn es schnell eine eindeutige Position zugunsten einer solchen Option annähme. Sollte dies nicht geschehen, dann kann man erwarten, dass nach und nach die Möglichkeit der De-facto-Unabhängigkeit von Noworossija eintreten wird mit all ihren verheerenden Folgen für Europa.


[1] Von 16. bis 23. August  haben die Aufständische erbeutet: 14 T-64s (Panzer), 25 VCI (Infanterie Kampfahrzeuge), 18 VTT (Truppentransporter), 1 ARV, 1 Raketenwerfer „Uragan“, 2 Panzerhaubitzen vom Typ „Gvozdika“, 4 Haubitzen D-30, 4 82mm Granatwerfer, 1 Flak zU-23-2, 33 Autos

Vom 20. Juni bis 23. August wurden (zusätzlich zur zerstörten Ausrüstung) erbeutet: 79 T-64s (Panzer), 94 VCI (vor allem BMP -2 und BMP-3), 57 VTT (meist BTR-70 und 80 achträdrig), 3 Panzerfahrzeuge der Pioniereinheiten, 24 Mehrfachraketenwerfer (122-mm) BM-21 „Grad“, 3 Raketenwerfer „Uragan“ ,2 fahrende Artilleriefahrzeuge 2C4 2 „Tulpe“, 6 Panzerhaubitzen 2C9 „Nona“, 27 Panzerhaubitzen 2C1 „Gvozdika“, 14 Haubitzen D-30, 36 82mm Granatwerfer, 19 Flakgeschütze DCA 23-mm-ZU-23-2, 157 Autos und Lastwagen.

Zusätzlich zu Beginn des Aufstandes, nahmen die Aufständischen Geräte aus den Lagern der Armee und der Polizei, es handelte sich dabei um älteres Material. Es handelt sich Insgesamt also um größere Mengen, mit denen man eine Truppe in der Größe der Aufständischen (rund 15.000 Männer) ausstatten kann. Bei diesen Geräten handelt es sich um sowjetische Geräte oder Produkte die in den 80ern und frühen 90ern produziert wurden. Die verschiedenen Bilder die uns zur Verfügung stehen zeigen diese Geräte und noch viel ältere. Nichts deutet daraufhin, dass Russland Waffen an die Aufständischen geliefert haben sollte. Nun müssen wir auch sagen, dass Zeitnahe Lieferungen von Waffen, die als letzteres von der Regierung beschlossen wurden und illegal eingeführt wurden, durchaus möglich sind. Aber zum jetzigen Zeitpunkt scheint es sich nur um von den Kiewer Truppen erbeutetes Material zu handeln

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