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Das Russland, das die USA verloren haben

Original Artikel von by Dmitry Sokolov-Mitrich: http://www.pravoslavie.ru/jurnal/73443.htm
8. September 2014
Ins Englische übersetzt von Daniil Mihailovich
Ins Deutsche übertragen von @OggJason


Wir liebten Amerika. Ich erinnere mich noch ganz genau. Als wir Teenager waren und aufwuchsen in den frühen 90er Jahren. Die meisten meiner Freunde im gleichen Alter hinterfragten nicht einmal ihre Haltung gegenüber der westlichen Zivilisation. Sie war großartig, wie könnte es anders sein?

Anders als unsere Großväter und auch Väter betrachteten wir das Auseinanderfallen der UdSSR – die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – nicht als Katastrophe. Für uns war es der Anfang einer langen Reise. Schließlich würden wir aus der sowjetischen Schale ausbrechen, hinein in die große Welt – grenzenlos und cool. Am Ende würden wir unsere sinnlichen Entbehrungen befriedigen. Wir wurden vielleicht nicht am richtigen Ort geboren, aber sicherlich zum richtigen Zeitpunkt – so dachten wir zumindest. Heute ist es schwer zu glauben, aber selbst als die orthodoxe Kirche aus der kommunistischen Aufsicht herauskam, war das für uns das Gleiche wie der Triumph der westlichen liberalen Werte. Die 1000-Jahr-Feier der Taufe Russlands und das erste Konzert der Scorpions in Moskau mit ihren „Winds of Change“ — für uns waren das lediglich verschiedene Aspekte der gleichen Sache.

Der Krieg im Irak und sogar der Zerfall Jugoslawiens hat sich irgendwie unserer Aufmerksamkeit entzogen. Und das lag nicht nur daran, dass wir jung und sorglos waren. Ich für meinen Teil war bereits in der Ausbildung bei der „Komsomolskaja Prawda“, in der Abteilung für Internationales. Ich überwachte den englischsprachigen Reuters Kanal, der war voller Izetbegovic, Karadzic und Mladic, aber ich habe alle diese Ereignisse irgendwie nicht ernst genommen. Das war irgendwo weit weg und nicht in unserer Gegend. Und natürlich passte der Krieg auf dem Balkan für mich nicht in irgendeine Art von anti-westlichem Narrativ. Kroaten töteten Serben, Bosnier töteten Serben, die Serben töteten alle beide – warum Amerika die Schuld geben?

1990 stimmten wir für die „Jabloko-Demokraten“, gingen zu den Barrikaden vor dem russischem weißen Haus auf der Seite der demokratischen Kräfte, sahen den neugeborenen NTV und hörten „Echo Moskau“. Unsere ersten journalistischen Artikel erwähnten immer die „zivilisierte Welt“ und wir glaubten fest daran, dass sie wirklich zivilisiert war. Mitte der 90er Jahre erschienen die ersten Euro-Skeptiker in unseren Reihen, aber sie fielen eher in die Kategorie des Advocatus diaboli. Ich selbst teilte ein ganzes Jahr lang ein Zimmer im Studentenwohnheim mit dem Kommunisten Petja und dem Monarchisten Arsenij. Meine Freunde aus anderen Zimmern verabschiedeten mich jeden Abend mit Worten des Bedauerns: „Tschüss. Und zurück mit Dir in Deine Anstalt.“

Den ersten schweren Schlag erhielt unsere pro-westliche Lebensorientierung durch den Kosovo. Es war ein Schock. Unsere rosarote Brille zerbrach in tausend Scherben. Die Bombardierung von Belgrad war für meine Generation das, was die Anschläge vom 11. September für die Amerikaner waren. Weltanschauungen drehten sich um 180 Grad, gemeinsam mit dem Flugzeug des damaligen Premiers Jewgeni Primakow, der gerade auf dem Weg von Irland in die Vereinigten Staaten über den Atlantik war, als er von Beginn der amerikanischen Aggression erfuhr – und gab den Befehl, nach Russland zurückzukehren.

In jenen Tagen gab es keine massive Staatspropaganda. Die smarten liberalen Moderatoren bei NTV erklärten ständig, dass ein Bombenabwurf auf eine europäischen Großstadt natürlich schon ein bisschen übertrieben sei, aber schließlich sei Milosevic der größte Schweinehund der jüngeren Geschichte, also verdient er es, keine große Sache also. Ihre satirische Show „Dolls“ [Kukly – ed.] zeigte diese Ereignisse wie einen guten Streit in einer gemeinsamen Wohnung, wo ein betrunkener Nachbar „Miss Kosovo“ quält und niemand im Haus ihr helfen kann, außer ihren Liebhaber mit dem mächtigem Oberkörper und dem Gesicht von Bill Clinton. Wir sahen es, aber glaubten nicht mehr. Es war nicht mehr lustig. Wir hatten bereits verstanden, dass Jugoslawien eine Demonstration dessen war, was in relativ naher Zukunft uns passieren könnte.

Der zweite Irakkrieg, Afghanistan, die endgültige Abtrennung des Kosovo, der „Arabische Frühling“, Libyen, Syrien – all dies war überraschend, aber nicht mehr weltbewegend. Illusionen waren geplatzt: Es war für uns mehr oder weniger klar, um was es dem Westen ging. Nichtsdestotrotz leben wir alle auf demselben Planeten… Der Mythos „böses Amerika, nettes Europa“ war immer noch da; die Ängste, durch Kosovo ausgelöst, ließen allmählich nach. Der Kompromiss ging etwa so: Ja, beste Freunde mit diesen Leuten zu sein ist unmöglich, aber wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten. Und letztendlich, mit wem sonst sollen wir zusammen arbeiten.

Die Parade der Farbrevolutionen erschien uns als unbedeutender Unfug, bis auf die letzte. Erst Euromajdan und der nachfolgende erbitterte Bürgerkrieg zeigten deutlich, dass der „Demokratische Prozess“ — ohne irgendwelche Regeln oder Verfahren und gestartet in einem fremden Land — kein geopolitisches Spielzeug ist, sondern eine echte Massenvernichtungswaffe. Die einzige Art Waffe, die gegen Staaten verwendet werden kann, die Nuklearwaffen besitzen. Alles ist sehr einfach: Wenn Sie eine Taste drücken und eine Rakete über den Ozean schicken, dann bekommen sich sicherlich eine identische Rakete als Antwort zurück. Aber wenn Sie im Feindesland eine Kettenreaktion des Chaos starten, dann wird man Sie nicht zur Verantwortung ziehen. Aggression? Welche Aggression?! Es handelt sich um einen natürlichen demokratischen Prozess! Der ewige Wunsch des Volkes nach Freiheit.

Wir sehen das Blut und die Kriegsverbrechen, die Körper von Frauen und Kindern und ein ganzes Land, das zurückgleitet in die 1940er Jahre – und die westlichen Welt, die wir so sehr liebten, versichert uns, dass das alles nicht geschieht. Die Kultur, die uns Jim Morrison, Mark Knopfler, und die Beatles brachte, die sieht es nicht. Die Nachkommen von Woodstock und dessen Besucher selber, die alternden Hippies die so viele Male „All you need is Love“ sangen, die sehen es nicht. Selbst die nachdenklichen Deutschen der Nachkriegs-Generation der Baby-Boomer, die so hart versuchten für die Sünden ihrer Väter zu büßen, sehen es nicht.

Das war ein Schock stärker als der Kosovo. Für mich und viele andere Tausende von Russen im mittleren Alter, die mit dem amerikanischen Traum im Kopf auf die Welt kamen, brach der Mythos der „zivilisierten Welt“ vollständig zusammen. Das Grauen ist ohrenbetäubend. Es gibt keine „zivilisierten Welt“ mehr. Und es ist mehr als das Zerplatzen unserer jugendlichen Ideale, sondern eine sehr ernste Gefahr. Die Menschheit hat ihre Werte verloren, verwandelte sich in ein Mob von Raubtieren und ein großer Krieg ist einfach nur noch eine Frage der Zeit.

Vor zwanzig Jahren wurden wir nicht besiegt. Wir ergaben ins. Wir haben nicht militärisch, sondern kulturell verloren. Wir wollten eigentlich nur wie sie sein. Rock n Roll hat mehr erreicht als alle nuklearen Sprengköpfe. Hollywood war stärker als die Drohungen und Ultimaten. Das Röhren der Harley-Davidsons während des Kalten Krieges war lauter als das Brüllen der Düsenjäger und Bomber.

Amerika, du bist so ein Trottel! Alles was Du hättest tun müssen, wäre zwanzig Jahre warten gewesen – und wir hätten für immer dir gehört. Zwanzig Jahre Vegetarismus — und unsere Politiker hätten selbst unsere Atomwaffen übergeben, sogar mit Händeschütteln aus Dankbarkeit dafür, dass sie ihnen abgenommen wurden. Was für ein Segen, dass du dich als solch ein Trottel herausgestellt hast, Amerika!

Du kennst uns ja noch nich einmal! Wir riefen neben anderen diese Worte in Richtung Kreml vor zwei Jahren. Seit damals sind, Dank dir, Amerika, die Zahlen derjenigen, die auf Plätze, gehen wollen drastisch zurückgegangen. Du redest Unsinn über uns, du denkst Unsinn über uns und als Ergebnis machst Du Fehler über Fehler. Du warst einmal ein cooles Land, Amerika. Deine moralische Überlegenheit erhob sich über Europa nach dem ersten Weltkrieg und wurde nach dem zweiten Weltkrieg noch verstärkt. Ja, du hattest Hiroshima, Vietnam, KKK und andere Leichen im Keller. Aber eine Zeitlang hatte all dieser Mist die kritische Masse nicht erreicht, die Wein in Essig verwandelt. Du hast der Welt gezeigt, wie man um der Kreativität und der künstlerischen Freiheit willen lebt. Du verwandeltest Orte in wirtschaftliche Wunder, wie Deutschland, Japan, Südkorea und Singapur. Aber du hast dich seitdem sehr verändert. Es ist schon eine Weile her, seit Du Lieder schriebst, die rund um die Welt gesungen wurden. Du verschleuderst dein wertvollstes Gut – moralische Überlegenheit. Und dieses Kapital verfügt über eine sehr unangenehme Eigenschaft: es kann nicht wiederhergestellt werden.

Amerika, du beginnst langsam zu sterben. Und wenn du denkst, dass ich Schadenfreude empfinde – dann liegst du falsch. Eine großer Epochenwechsel ist immer begleitet von einer Menge Blut und ich mag kein Blut. Wir, das Volk, die wir bereits durch den Sonnenuntergang unseres Reiches gegangen sind, könnten dir sogar erklären, was du falsch machst. Aber wir werden es nicht. Denke selber nach.

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